Peinliche Tagebücher

Vor mir am Schreibtisch, etwa einen halben Meter über meinem Kopf, stehen im Regal seit eigentlich immer ein paar recht hässliche, kleine Bücher. Das schreibe ich jetzt eigentlich nur so, weil es gut klingt, denn das Regal ist recht neu. Sie hat es vor ein paar Monaten überraschend besorgt und angebracht, nachdem ein Maler die Tapeten im Wohnzimmer gelöst und Farbe direkt auf die Wand aufgetragen hat. Das mache man jetzt so. Raufaser sei nicht mehr schick. Nur an der Decke, meinte der Maler, nachdem er dort vergeblich versucht hatte, die Tapete zu lösen, da würde das noch gehen. Da würde ja keiner so genau hinsehen. Es sieht jetzt ein bisschen blöd aus und wenn Besuch kommt, versuche ich, die Blicke immer auf Augenhöhe zu locken, damit man nicht an die Decke sieht und irritiert fragt, warum da denn Tapete sei. Immerhin kann ich noch das Spiel machen, mir die Frage zu stellen, ob die merkwürdig strukturierte Tapete an der Decke wiederholende Muster hat oder nicht. In zehn Jahren habe ich noch keine Antwort darauf gefunden.

Jedenfalls hat Sie, damit das neue Regal nicht so nackt aussieht, ein paar Alibi-Bücher reingestellt. Letztens erst habe ich gelernt, dass man in Antiquariaten Bücher-Reihen farblich sortiert für Dekorationszwecke bestellen kann. Das fand ich erst absurd und dann eigentlich ganz schön. Aber wir haben genug Bücher und so stehen oben rechts nun ein paar zusammenhanglos wirkende kleine Büchlein, die man äußerlich bestenfalls von „wirklich sehr hässlich“ bis „mausgrau“ sortieren kann. Aber thematisch passen sie zusammen, denn es sind – und das erkenne nur ich – meine Tagebuch-Versuche aus den letzten dreißig Jahren. Und, auch wenn ich sie täglich sehe, denke ich nie an sie. Nehme sie nie in die Hand. Ich weiß oft nicht einmal mehr, dass sie existieren. Bis zu dem Tag letzte Woche, als ich sie aus dem Regal nahm und zu lesen begann. Und dann ist mir aufgefallen, wie lange ich Tagebuch schreibe. Und dass Tagebuch schreiben immer ein bisschen peinlich ist. Fast so wie das Schreiben jetzt gerade. Also für den Moment, in dem man es macht. Das Schreiben.

Und wenn man es dann später liest, dann freut man sich, weil einem fast nichts zu peinlich war. Und man merkt, wie man sich verändert hat, weil man in die Vergangenheit reisen will, um sich auf die Schulter zu fassen und zu sagen, dass das jetzt wirklich alles nicht ganz so dramatisch ist, wie es vielleicht wirke. Aber da nimmt man sich ja dann auch nicht ganz ernst, weil damals war eben wichtig und dann merkt man, dass man sich vielleicht auch gar nicht so sehr verändert hat, weil, wenn man ehrlich ist, versteht man sein früheres Ich ja auch. Und so hat man etwas zum Nachdenken. Und, wenn man dann den anderen Menschen Passagen vorliest, sie man ganz besonders findet, sind sie bei der ersten interessiert, bei der zweiten schmunzeln sie noch und bei der dritten fragen sie, ob sie vielleicht einen Tee machen sollen oder man nicht spazieren gehen wollle. Denn eigentlich schreibt man nur für sich. Jetzt schreibe ich wieder. Ich bin ehrlich und weiß, dass es wieder nur ein Fragment wird. Aber viele angefangene Tagebücher sind auch eine Geschichte. Eine, die bessere ist als keine.